Weidmannsheil im Entlebuch: Mit der Jagdgesellschaft Schüpfheim-Schattseite auf Treibjagd

Es ist Wildsaison. Die Jäger beliefern diverse Restaurants in der Region mit Wildbret. Wir haben eine Jägergruppe auf einem Jagdtag begleitet.

Im Entlebucher Alpgebiet Finishütten oberhalb von Schüpfheim kündet sich ein sonniger und milder Oktobertag an. Hinter der Pilatus-Bergkette kriechen allmählich die ersten Sonnenstrahlen hervor, während Markus Stalder seine kombinierte Waffe bereit macht. Es ist 9.30 Uhr. In den linken und rechten Lauf lädt er je eine Schrotpatrone, im oberen Lauf setzt er eine Kugel ein. Der prüfende Blick durch das Visier folgt hinterher – alles Routine.

 

Markus Stalder, Obmann der Jagdgesellschaft Schüpfheim-Schattseite, begleitete schon als Zweitklässler seinen Vater zur Jagd. An diesem Morgen absolviert er mit seiner Jagdgesellschaft die vierte Treibjagd des Monats – sechs weitere werden in diesem Herbst noch folgen. Mit zwei langen Stössen durch das Jagdhorn signalisiert Stalder seinen Jagdkollegen, dass er bereit ist. Die Treibjagd kann beginnen. «Jetzt müssen wir still sein, ansonsten haben die anderen keine Freude», sagt Stalder schmunzelnd. Er hat sich hinter einem Baumstumpf am Waldrand im steilen Gelände positioniert und beobachtet das Geschehen wachsam. 

 

 

 Markus Stalder beobachtet das Geschehen aufmerksam. Bild: Pascal Linder (Schüpheim, 20. Oktober 2021)

 

Rund 20 Jägerinnen und Jäger haben sich für die heutige Jagd getroffen. Die Treibjagd ist ein Zusammenspiel von Schützen, Treibern und Hunden: Die Treiber scheuchen mit den Hunden das Wild auf und versuchen es so vor die Flinten der Schützen zu lenken. Die Schützen sind im ganzen Gebiet verteilt. Für Stalder heisst es erst einmal warten. Warten, bis sich die Möglichkeit zum Abschuss bietet.

 

Nachdem rund 40 Minuten nichts passiert ist, ist aus der Entfernung plötzlich lautes Bellen zu hören. «Jetzt stechen die Hunde, jetzt sind sie auf Reh gestossen», sagt Stalder und zeigt auf ein entferntes Waldstück zu seiner linken Seite. Rund zehn Minuten später, um 10.21 Uhr, ist es so weit: Es fällt ein Schuss. Und dann gleich noch einer. Die Jäger waren ein erstes Mal erfolgreich. Die Hunde bellen noch immer. Totverbellen nennt man das in Jägersprache. «Hörst du das? Wenn die Hunde beim toten Tier stehen, bellen sie in einer völlig anderen Tonlage», sagt Stalder. 

 

Später endet der erste Trieb, ohne dass Stalder auf seinem Ansitz überhaupt Wildtiere gesehen hat. Vielleicht hat er am Nachmittag beim zweiten Trieb mehr Glück. Der 56-jährige Betriebstechniker wäre allerdings nicht enttäuscht, wenn er bis am Ende des Tages keine Beute macht. Für ihn stehen bei der Jagd ganz andere Dinge im Vordergrund: «In 80 Prozent der Fälle gehe ich ohne Beute nach Hause. Was zählt, ist das Erlebnis und die Zeit, die ich in der Natur verbringen kann.» Dennoch sei das Ziel klar: ein edles Stück Wildfleisch heimbringen.

 

 

Ein Jäger mit seinem Hund. Er war im ersten Trieb nicht erfolgreich. Bild: Pascal Linder (Schüpheim, 20. Oktober 2021)

 

Regulierung der Natur

Ist die Jagd, die grosse Passion von Markus Stalder, überhaupt noch zeitgemäss? Er sagt ja. Und notwendig sei sie auch. Jagdkritische Kreise monieren immer wieder, dass die Jagd schon längst überflüssig sei – besonders die Treibjagd steht im Fokus der Kritiker. Doch für Stalder ist die Treibjagd mit den Hunden eine Massnahme, um die Natur im Gleichgewicht zu halten. «Ohne Hunde haben wir keine Chance, das Wild aufzuspüren», sagt Stalder und ergänzt:

 

«Wir Jäger haben einen klaren Auftrag und müssen in den Wäldern den Bestand der Wildtiere regulieren, ansonsten hat die Naturverjüngung keine Chance.»

 

Er spricht Verbissschäden an. Wildtiere fressen Knospen und Triebe und verhindern so ein ungestörtes Wachstum der Jungpflanzen. Die Natur könne sich in unberührten, grossflächigen Landschaften selber regulieren, doch in der dicht besiedelten Schweiz sei dies Wunschdenken. Stalder begründet die ablehnende Haltung zur Jagd bei vielen damit, dass sie die Jagd nicht verstehen würden. «Was die Menschen nicht kennen und daher nicht verstehen, das lehnen sie ab», so seine Meinung. Er sagt:

 

«Mich ärgert die Doppelmoral von gewissen Leuten. Sie wollen zwar unberührte Natur, greifen aber durch ihre diversen Hobbys massiv in die natürlichen Kreisläufe ein.»

 


Revierjagd im Kanton Luzern

In der Schweiz existieren zwei Jagdsysteme: die Revier- und die Patentjagd. Im Kanton Luzern wird Erstere praktiziert. Wer im Kanton Luzern jagen will, muss die Jagdprüfung bestehen und bei einer Jagdgesellschaft aufgenommen werden. Alle acht Jahre werden die 123 Jagdreviere an Jagdgesellschaften neu verpachtet. Das Amt für Landwirtschaft und Wald (Lawa) gibt den Abschussplan vor. Ein Blick in die Eidgenössische Jagdstatistik zeigt: Letztes Jahr wurden auf dem gesamten Kantonsgebiet 4278 Rehe, 326 Gämse, 175 Rothirsche und zehn Steinböcke geschossen.

Im Kanton Luzern gibt es drei Jagdschulen, in denen man die einjährige Ausbildung absolvieren kann. Im laufenden Jagdlehrgang befinden sich 58 Personen, wie Philipp Amrein, Fachbereichsleiter Jagd und Fischerei Luzern,

auf Anfrage mitteilt. Darunter seien acht Frauen. In den letzten Jahren seien die Anmeldezahlen für die Jagdlehrgänge stetig leicht steigend.


Suppe von Henriette und ein Stück Fleisch auf dem Grill

Die Mittagspause verbringen die Jäger bei «Schöpfers-Schürli», einer Holzhütte. Als Markus Stalder bei der Hütte ankommt, sind die meisten seiner Kollegen bereits dort. Die Jäger kramen aus ihren Rucksäcken das Mittagessen hervor. Fleisch, Käse und Brot – drei häufige Produkte beim Aser (Mittagessen). Vor der rustikalen Holzhütte stehen zwei Tische mit Festbänken, nebenan eine Feuerstelle mit Sitzgelegenheit rundherum. Auf dem Grillrost zischt das Fleisch, während sich die Jäger mit meist alkoholfreiem Bier zuprosten. Angestossen wird mit der linken Hand, so will es die Jägersitte. 

 

Käse, ein alkoholfreies Bier und Brot. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Bilder: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Henriette Wigger, die jeweils als Treiberin dabei ist, hat eine Suppe gekocht und serviert sie den Jägern. «Die Suppe hat in unserer Jagdgesellschaft Tradition», sagt Markus Stalder, während er sich den Löffel zum Mund führt. 

 

 

Eine Suppe zur Stärkung. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

Im Hintergrund läuten die Glocken der Finishütten-Kapelle, es ist 12 Uhr. Die Jäger besprechen den Trieb des Morgens – auch Geschichten aus dem Dorf werden ausgetauscht. Es herrscht eine gesellige Stimmung, einige der Jäger paffen einen Stumpen. Auf der Wiese vor der Hütte liegt die Beute des ersten Triebes: Es ist ein Rehbock. Stalder schätzt das Tier auf rund 2,5 Jahre. Die Jäger haben dem erlegten Tier einen Tannenzweig in den Mund gelegt – als Zeichen des Respekts und der Verbundenheit.

 

Dieser Rehbock wurde beim ersten Trieb geschossen. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Jagdleiter Ernst Felder erklärt nach dem Essen, wie der Plan für den Nachmittag aussieht. Dann wird nämlich in einem anderen Waldstück gejagt. Die Jägergruppe versammelt sich in einem Halbkreis und hört aufmerksam zu. Wichtig: Alle Jäger müssen stets wissen, wo ihre Kameraden stehen – das ist sicherheitsrelevant. Die Sicherheit ist auch der Grund, weshalb die Treiber leuchtend orangene Kleidung tragen. Felder gibt bekannt, wer sich wo positioniert und wer mit den Hunden die Funktion des Treibers übernimmt. Markus Stalder ist im zweiten Durchgang einer der Treiber. Mit den Hunden gehen die Jäger zum besagten Waldstück, wo sie sich wieder verteilen.

 

Die Hunde sind auf einer Treibjagd immens wichtig. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

 

Die Jäger brechen nach der Mittagspause zum zweiten Trieb auf. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

Mit dem Hund durch unwegsames Gelände

Stalder ist jetzt mit seiner dreijährigen Stöberhündin unterwegs. Sie heisst Toffee, in Anlehnung an die braune Fellfarbe, ähnlich wie die bekannte Süssigkeit. Das Startsignal für den zweiten Trieb erfolgt. Toffee und Stalder schreiten durch das Dickicht. Auf derselben Höhe, in geräumigem Abstand, bewegen sich noch weitere Treiber. Toffee sucht eifrig nach Wildtieren und rennt über Stock und Stein. «Hoo hooo, heiaa heiaa!», ruft Stalder immer wieder in den Wald. Das Gelände wird unwegsam. Stalder bewegt sich trittsicher. Das Gewehr umgehängt. 

 

 

Markus Stalder bewegt sich im unwegsamen Wald. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

Auf einmal ist lautes Bellen mehrerer Hunde zu hören, etwas weiter oben wurde Wild gesichtet. Stalder wird aufmerksam und nimmt die Waffe in die hohe Bereitschaftsstellung. «Das ist richtig schöne Musik», sagt er mit einem verschmitzten Lachen. Wenig später sichtet er ein Reh – rund 15 Meter entfernt. Die Gelegenheit zum Abschuss bietet sich jedoch nicht, der Wald ist zu dicht. Als Mitglied der Jagdprüfungskommission trichtert er dies auch den angehenden Jägerinnen und Jägern ständig ein: Geschossen wird erst, wenn man sich 100 Prozent sicher ist. 

Gezielt und getroffen

Stalder und Toffee ziehen weiter durchs Unterholz. Die Stöberhündin wirkt unermüdlich. Und dann steigt der Adrenalinspiegel schlagartig: Stalder hört seine Hündin bellen. Er beobachtet, wie Toffee am gegenüberliegenden Hang ein Reh jagt. Jetzt geht alles schnell. Stalder nimmt die Waffe in den Anschlag, zielt und schiesst. Getroffen! Das leblose Reh liegt in einem mit Wasser gefüllten Graben, in dem sich das Wasser rot färbt. Markus Stalder zieht das Reh aus dem Graben und legt es auf die Wiese. «Bravo Toffee, das hast du super gemacht», sagt er, während er seine Stirn an jene von Toffee drückt. Die Hündin scheint sich ebenfalls über die Beute zu freuen – sie leckt über das Fell des leblosen Tieres.

 

Toffee und ihre Beute. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Stalder zückt indes sein Messer und macht sich an die rote Arbeit. Er bricht das Reh auf, entfernt die inneren Organe und legt sie ins Gras. Aus hygienischen Gründen muss das Aufbrechen ziemlich schnell nach dem Erlegen geschehen, wie Stalder sagt. Denn bereits 30 bis 45 Minuten nach dem Tod werde der Magen-Darm-Trakt für Bakterien durchlässig. Stalder überprüft, ob es Hinweise auf Krankheiten beim erlegten Tier gibt. Die Milz beispielsweise müsse einen sauberen Rand haben und sie müsse sich weich und geschmeidig anfühlen. Bei diesem Reh scheint alles in Ordnung zu sein. Jagdkollege Oli gesellt sich zu Stalder. «Weidmannsheil!», sagt Oli und gratuliert mit einem festen Händedruck. «Weidmannsdank», antwortet Stalder. Gemeinsam gehen sie zurück zur Hütte, wo die anderen Jäger bereits warten.

 

Markus Stalder und seine Beute. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Mit Kollege Oli geht Stalder zurück zur Hütte. Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

Auf diesem Trieb war ein weiterer Jäger erfolgreich – drei Rehe liegen mittlerweile auf der Strecke. Weitere Jäger kommen auf Stalder zu. «Weidmannsheil», sagen sie und lupfen die Filzhüte. Mittlerweile zeigt die Uhr Viertel nach drei. «Das ist eine dumme Zeit, um aufzuhören», meint Jagdleiter Ernst Felder. Kurzerhand entscheidet er, einen dritten und letzten Trieb in einem anderen Gebiet, im Farnerengraben, durchzuführen.

 

 Markus Stalder lädt zum letzten Mal an diesem Tag seine Waffe.  Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

 

Markus Stalder positioniert sich beim letzten Trieb auf einem Hügelkamm. BIld: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)

 

Das Fazit nach dem dritten Trieb: keine Beute. «Die Hunde sind jetzt wohl auch etwas müde», bilanziert Stalder. Somit bleibt es bei den drei geschossenen Rehen. Der offizielle Jagdtag endet mit dem «Strecke legen», «Strecke verblasen» und dem Schlusswort des Jagdleiters. Es ist 17.40 Uhr, als die Jagdhornklänge ertönen.

 

 

Der Jagdtag endet mit dem «Strecke legen» und «Strecke verblasen». Bild: Pascal Linder (Schüpfheim, 20. Oktober 2021)