Im Einsatz bei Kälte und Nässe: Unterwegs mit einem Luzerner Velokurier

Brenzlige Situationen gehören zu seinem Berufsalltag. Dennoch zieht er den Job als Velokurier dem Bürosessel vor. Auf Tour mit Rainer Affolter, Velokurier aus Leidenschaft. 

Rainer Affolter liebt seinen Job als Velokurier. Bild: Pascal Linder (Luzern, 26. November 2021)

Erstmals in diesem November macht sich der Winter bemerkbar. Das Quecksilber hat sich um den Gefrierpunkt eingependelt und vom Himmel fallen Flocken – die Dächer der Stadt Luzern sind weiss eingepudert. «Los geht’s», sagt Rainer Affolter, während er sich auf den Sattel seines Kuriervelos schwingt. Der schwarze Aluminiumrahmen seines Velos ist mit einigen Stickern dekoriert. Rainer Affolter trägt Vollbart, einen grossen Transportrucksack und unter dem Helm ein Velocap im Retrostil. Den garstigen Bedingungen entsprechend ist der 34-Jährige warm eingekleidet. Im Zwiebelprinzip.

 

Rainer Affolter macht an diesem Tag die Vormittagsschicht und ist seit rund drei Stunden im Einsatz. Sein nächstes Ziel ist das Büro eines Pharmaunternehmens – ein Dauerauftrag. Die Fahrt dorthin dauert nur wenige Minuten und ohnehin weniger lang als Google Maps dafür berechnen würde. Aufgrund des Tagesplans liefert Affolter die Geschäftspost heute rund 30 Minuten später als gewohnt – hierfür entschuldigt er sich bei der Kundin. «Das ist überhaupt kein Problem, bei dem heutigen Hudelwetter sowieso nicht», antwortet die Dame hinter der Empfangstheke freundlich. Rainer Affolter wird später noch zwei weitere Bürostandorte dieser Firma beliefern, doch vorerst holt er ein Baueingabedossier bei einer Bauunternehmung in Kriens ab.

 

Zeit zum Durchatmen bleibt keine: Nachdem Affolter das Dossier bei der Baufirma abgeholt hat, prüft er auf seinem Handy den Terminplan seiner Kuriertour: «Jetzt bringen wir einen Blumenstrauss in das Alterszentrum Eichhof», sagt er und zieht sich seine durchnässten Handschuhe wieder über. Zügig, mit einer Geschwindigkeit von mehr als 30 km/h und einer hohen Trittfrequenz von rund 100 Umdrehungen pro Minute, pedaliert er in Richtung Eichhof.

 

Brenzlige Situationen im Strassenverkehr gehören zum Alltag

Aus den Schneeflocken ist mittlerweile Regen geworden. Auf der Höhe Ringstrasse überquert ein Auto von links den Veloweg. Affolter hätte Vortritt, doch er nimmt etwas Tempo raus und gewährt dem Auto die Vorfahrt. «Es lohnt sich nicht, ein Risiko einzugehen», sagt der Velokurier. Man müsse stets für die anderen Verkehrsteilnehmenden mitdenken. Denn oftmals werde die Geschwindigkeit von Velofahrenden unterschätzt oder die Autofahrenden würden Velofahrerinnen und Velofahrer zu spät wahrnehmen. Rainer Affolter ergänzt:

 

«Brenzlige Situationen gehören zum Berufsalltag, einen richtigen Unfall hatte ich glücklicherweise noch nie.»

 

Affolter arbeitet seit zehn Jahren als Velokurier. Angefangen hat er als Maschineningenieurstudent, um nebenbei etwas Geld zu verdienen. Bei der Geburt seiner ersten Tochter merkte er schliesslich, dass man in diesem Job sehr gut in einem Teilzeitpensum arbeiten könne. Heute ist er in der Firma zusätzlich für das Marketing und die Disposition zuständig – drei Mal pro Woche ist er als Kurier mit dem Velo unterwegs.

 

Mittlerweile ist es 10.40 Uhr. Rainer Affolter hat soeben den Blumenstrauss im Alterszentrum Eichhof an der Rezeption abgegeben. Wie er sagt, gehören Blumensträusse zum Tagesgeschäft. Das Unternehmen liefere pro Tag rund 20 Blumensträusse aus.

 

Beim Büro des Kleintheaters Luzern hat der Velokurier sechs Werbeplakate abgeholt, diese muss er jetzt zur Weiterverarbeitung in die Werbeagentur Modul an die Bernstrasse bringen. Rund um den Bahnhof herrscht viel Verkehr. Die eine Ampel überfährt Rainer Affolter knapp, bevor sie auf Rot schaltet. Die nächste ebenfalls. Affolter surft auf der grünen oder wohl eher orangen Welle. Zügig pedaliert er über die nassen Strassenmarkierungen – gekonnt und routiniert. Auf dem Kopfsteinpflaster vor der Jesuitenkirche muss er mehreren Passanten ausweichen.

 

Beim Kreuzstutzkreisel biegt er links auf die Bernstrasse ab. «Jetzt können wir heute sogar noch etwas bergauf fahren», sagt er grinsend, während er auf die kleineren Ritzel schaltet. Radfahren macht ihm sichtlich Spass. Im Werbebüro liegt ein kurzer Schwatz mit dem Geschäftsführer drin – höchstens fünf Minuten.

 

Rainer Affolter liefert Werbeplakate bei einer Werbeagentur ab. Bild: Pascal Linder (Luzern, 26. November 2021)

 

Der Kundenkontakt sowie ein freundliches Auftreten hätten bei der Velokurier Luzern Zug AG einen hohen Stellenwert, wie er sagt. Die Stammkunden kenne er alle persönlich und er habe noch nie Respektlosigkeit erlebt. 

 

Nicht von der Pandemie profitiert

Weiter geht’s in Richtung Viscosistadt in Emmen. Im dritten Stock der Hochschule Luzern holt er Corona-Spucktests der Studenten ab. «Diese Tests müssen an die Frankenstrasse», sagt die Mitarbeiterin hinter der Plexiglasscheibe. Rainer Affolter versorgt die Spucktests in der Tasche und erhält von der Mitarbeiterin noch eine Handvoll Schokoladentaler mit auf den Weg. Eine willkommene Stärkung für zwischendurch. Weiter geht's. Beim Kasernenplatz muss er anhalten, die Ampel zeigt Rot. Er balanciert ohne abzusteigen rund 20 Sekunden lang, bis die Ampel wieder auf Grün schaltet. Wenig später liefert er die Spuckproben am gewünschten Zielort ab – via Funkgerät teilt er dies der Zentrale mit.

 

Die Coronaproben gehören mittlerweile zu den täglichen Transportgütern der Luzerner Velokuriere. Insgesamt haben sich die Aufträge seit der Pandemie verändert, wie Rainer Affolter sagt: «Als die Homeoffice-Pflicht kam, fiel der interne Postaustausch bei den Firmen weg. Dafür lieferten wir vermehrt Bücher nach Hause.» Doch auch der Büchertrend habe sich mit der Zeit wieder abgeschwächt. Affolter bilanziert:

 

«Von der Pandemie konnten wir nicht profitieren. Es sind neue Aufträge dazugekommen, doch andere sind dafür verschwunden.»

 

 


Das Geschäft mit urbanen Kurierdiensten wächst 

 

In Zürich gibt es seit Januar das Start-up-Unternehmen Stash. Dieses verspricht, Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs innerhalb von 10 Minuten zu liefern. Seit Anfang Dezember ist das Unternehmen auch in der Stadt Luzern tätig, mit Zentrale an der Gibraltarstrasse: Rund 20 temporäre Mitarbeitende liefern die Waren auf dem Velo in einem Lieferradius von rund 3 Kilometern aus. «Unsere Kunden werden nicht zu Stash abspringen», sagt Rainer Affolter von der Velokurier Luzern Zug AG. Die Zielgruppe sei eine andere.

Das Geschäft mit urbanen Kurierdiensten wächst. Die Velokurier Luzern Zug AG macht einen Jahresumsatz von rund 2 Millionen Franken. 2019 unterzeichnete der Kurierdienstleister einen Gesamtarbeitsvertrag der Gewerkschaft Syndicom – Europapremiere. Mit dem Gesamtarbeitsvertrag wolle man sich von der Billigkonkurrenz abgrenzen, wie Affolter sagt. 

 


Mittlerweile ist es 11.40 Uhr: Der Velokurier wartet in einer Praxis im Bahnhofgebäude auf Stoffwechselproben, die er auf den Zug bringen soll. Eine Praxisassistentin sagt zu Rainer Affolter: «Sorry, es dauert noch fünf Minuten, bis die Proben bereit sind. Dafür kannst du dich bei uns noch etwas aufwärmen.» Nach einem kurzen Schwatz sind die Proben schliesslich bereit und Rainer Affolter bringt sie auf den Zug auf Gleis 8. «In Bern wird ein anderer Velokurier den Auftrag am Bahnhof abholen und in das Ziellabor bringen», erklärt er. Seine Schicht endet bald. Vor Feierabend fährt er noch an die Alpenstrasse und an die Zürichstrasse – dort holt er noch weitere Laborproben bei Praxen ab.

 

Rainer Affolter prüft auf dem Handy, ob er noch weitere Aufträge erledigen muss. Bild: Pascal Linder (Luzern, 26. November 2021)

 

Teamgedanke wird grossgeschrieben

Er macht sich schliesslich auf den Weg zurück zur Zentrale. Es ist 12.20 Uhr, als Affolter dort ankommt. Seine Kolleginnen und Kollegen sitzen bereits im Pausenraum und essen gemeinsam zu Mittag. «Der Teamgedanke ist bei uns extrem wichtig», sagt Affolter. Das Team der Velokurier Luzern Zug AG bestehe heute aus 48 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Viele davon würden als Ausgleich neben ihrem eigentlichen Job als Velokurier arbeiten. 10 Mitarbeitende seien festangestellt. Schlechtes Wetter, wie es heute der Fall ist, sei für alle im Team kein Problem. Affolter sagt:

 

«Wenn man bei uns arbeitet, ist man stolz, Velokurier zu sein. Wir bestreiten den Tag als Team, egal bei welchem Wetter.»

 

 Rainer Affolter auf dem Weg zurück in die Zentrale. Bild: Pascal Linder (Luzern, 26. November 2021)

 

Rainer Affolter holt sich ein wohlverdientes Feierabendbier aus dem Kühlschrank und setzt sich auf das grosse Sofa. Seine Schicht ist nach über 60 Kilometern und nach rund fünfeinhalb Stunden bei Kälte und Nässe beendet.